Bijbel en Wetenschap Oktober 2001
Zeitschrift der Evangelischen Hochschule
www.eh.nl
WIE LESEN WIR DIE SCHRIFT?
Historische Zuverlässigkeit zwischen
Fundamentalismus und Modernismus
In den letzten Jahren ist die Frage nach der Autorität und der historischen
Zuverlässigkeit der Schrift auch in ‘bibeltreuen’ Kreisen (ein ziemlich
anspruchsvoller Begriff!) voll in die Diskussion gekommen. In diesem Artikel versucht
Prof. Ouweneel die Diskussion einigermaßen geordnet darzustellen.
Prof. Dr. Willem J. Ouweneel
Klassische und Neo-Evangelikale
In seinem Artikel in Soteria (siehe meinen redaktionellen Beitrag) läßt Dr. Chris
Wright u.a. sehen, daß die Diskussion zwischen der historisch-kritischen Methode
einerseits und der ‘evangelischen’ (bibeltreuen) Theologie andererseits in
gewissem Sinn überholt ist. Beide gehören zur ‘modernen’ Zeit, die an einer
starken Überschätzung der Wissenschaft (‘Scientismus’) litt. Die Kritiker ‘zeigten’
wissenschaftlich ‘auf’, daß die Bibel naturwissenschaftlich und historiografisch
ein höchst fehlbares Buch ist, die Evangelikalen ‘zeigten’ wissenschaftlich ‘auf’,
daß die Bibel keine Fehler und Irrtümer enthält. Diese Unfehlbarkeit der Bibel wird
verpackt in wissenschaftliche Formulierungen und Modelle, die - vor allem, wenn sie in
Konfessionen [das meint: schriftlich formulierten Glaubensbekenntnissen; AdÜ]
festgelegt werden - als beinahe ebenso unfehlbar wie die Schrift selbst betrachtet
werden. Die Fundamentalisten (jetzt auch wieder Drs. K. van Berghem in seiner
kürzlich erschienenen Broschüre) greifen dann auch immer auf diese Modelle zurück,
z.B. auf die Chikago-Erklärung bezüglich der biblischen Unfehlbarkeit. (Wie gut und
wertvoll die Erklärung auch ist, sie bleibt doch gebrechliches und immer
zeitgebundenes Menschenwerk!) Demgegenüber stehen die sogenannten ‘Neo-Evangelikalen’,
die Van Berghem ‘den’ Evangelischen gegenüberstellt.
Obwohl das Verteilen von Etiketten ziemlich unnuanciert ist, könnte man den Baptisten
Drs. Van Berghem, aber auch viele Konfessionalisten in der reformierten Konfession
klassische Evangelikale nennen. Dr. Chris Wright und andere Schreiber, die in dieser
Soteria-Nummer schrieben, wie Drs. Gijs van den Brink und Dr. René van Woudenberg,
und weiterhin verschiedene Denker im reformierten Kreis, die man (heimliche und
öffentliche) ‘Post-Konfessionalisten’ nennen könnte, wären dann neo-evangelikal.
Veraltet
Es ist peinlich, es so sagen zu müssen, aber in mancher Hinsicht gehören die
klassischen Evangelikalen in die gleiche Kategorie wie die modernistischen Theologen.
Ich habe bereits früher geschrieben, daß nach meiner Ansicht die Theologie von Dr.
H.M. Kuitert hoffnungslos veraltet ist, weil sie von der ‘modernen’ (also
veralteten) Auffassung der Wissenschaft ausgeht. Aber viele der
klassisch-evangelikalen Theologen, die ihn bekämpft haben und bekämpfen, sind ganz
genau so veraltet. Das kommt daher, wie Dr. Wright angibt, daß die Diskussion
modernistisch gegen klassisch- evangelikal veraltet ist wegen des darin steckenden
Rationalismus (Überschätzung der Vernunft) und Scientismus (Überschätzung der
Wissenschaft). Die Diskussion besteht nicht länger zwischen ‘Bibeltreuen’ und ‘Bibelkritikern’,
denn der Begriff ‘bibeltreu’ ist ziemlich arrogant (Wer stellt fest, ob jemand das
ist!?), und obendrein geht der Begriff vorbei an der heute schärfer gesehenen
Tatsache, daß ein Begriff wie ‘Bibeltreue’ kontextuell bestimmt ist, das heißt
bestimmt durch den Kontext (Zeitgeist, Kultur, Kenntnishorizont) des Lesers bzw. des
Theologen. Im Hintergrund theologischer Diskussionen spielen philosophische,
kulturelle, psychologische und soziologische Faktoren immer die entscheidende Rolle.
Wir begreifen heutzutage deutlicher, als es früher oft geschah, wie historisch
bestimmt unsere Sicht auf die Schrift und damit auch unsere Sicht auf ‘Bibeltreue’
und auf die ‘Zuverlässigkeit’ der Schrift sind. So glauben alle bibeltreuen
Theologen, daß die Schrift von Gott inspiriert ist; aber inzwischen sind ihre
wissenschaftlichen Theorien über diese Inspiration ständig in Bewegung. Ich kenne zu
diesem Zeitpunkt wohl acht verschiedene Inspirationstheorien. Nur starre
Fundamentalisten und Konfessionalisten glauben, daß gewisse große Theologen - oder
‘die Kirche’! - irgendwann in der Vergangenheit ein für alle Mal festgestellt
haben, was ‘Inspiration’, ‘Unfehlbarkeit’, ‘Zuverlässigkeit’ der Schrift
usw. genau beinhalten. In Wirklichkeit sehen wir oft im Nachhinein, wie historisch
bestimmt solche Sichtweisen aus der Vergangenheit in Wirklichkeit waren - und spätere
Generationen werden über unsere Sicht der Schrift das gleiche sagen. Jede
theologische Lehre über die Unfehlbarkeit der Schrift ist fehlbares Menschenwerk. Die
Inspiration der Schrift z.B. ist nämlich im tiefsten ein transzendentes Geheimnis,
das wir niemals in eine schlüssige theologische Theorie einfangen können; wir
können sie nur berühren, nur darüber stammeln. Oft ist es schon sehr schön, wenn
wir zu argumentieren wagen, was Inspiration in jedem Fall nicht ist! Aus den gleichen
Gründen ist die Diskussion zwischen Evolutionismus und Kreationismus als solche
veraltet, zum einen, weil beide -ismen unter dem breiten Publikum viel weniger
lebendig sind, zum zweiten, weil die dazu benutzten Waffen stumpf geworden sind (vermutlich
kommt das erste mit durch das zweite). Die gesamte Thematik steht nicht mehr auf der
Tagesordnung der Neo-Evangelikalen, ob ‘man’ das nun gut findet oder nicht. Und
abgesehen davon: Wir begreifen deutlicher als früher, daß der Kreationismus nicht in
der ‘bibeltreuen’ Sicht der Schrift begründet ist, denn streng genommen besteht
weder das eine noch das andere. Es geht in der Diskussion über ‘Die Botschaft und
die Kluft’ bestimmt nicht nur um die Frage, wie wir die ‘alte Botschaft’ noch
beim postmodernen Menschen anbringen können, sondern vor allem um die Frage, ob wir
selbst die ‘alte Botschaft’ gut verstehen. Geht es wirklich im Evangelium doch vor
allem um die ewige Errettung der Seele, oder um unendlich viel mehr oder sogar viel
höhere Dinge? Ist die Annahme eines buchstäblichen, historischen Adam wirklich genau
so wichtig wie der Glaube an den buchstäblichen, historischen Christus? Geht es bei
der ‘Zuverlässigkeit’ der Schrift auch, oder sogar vor allem, um die Frage, ob
die Bibel geschichtlich und naturwissenschaftlich überall zu ‘stimmen’ scheint,
oder vielmehr um eine existentielle Sache? Oder sind dies falsche Gegensätze?
Die ‘Basis’ in den reformatorischen Kirchen und evangelischen Gemeinden scheint
nach jüngsten Umfragen immer größere Mühe zu haben mit buchstäblichen
Schöpfungstagen von 24 Stunden, mit einer buchstäblichen, sprechenden Schlange im
Paradies, mit einem Jona, der drei Tage in einem buchstäblichen Fisch saß, mit einem
Evangelium, in dem es um die Seele geht, und nicht um Kultur und Gesellschaft mit
einem absoluten Verbot der Abtreibung, oder der freiwilligen Euthanasie, oder
homosexuellen Freundschaften, mit einer ewigen Hölle für alle Nicht-Christen, mit
einem Christentum, das in Dogmen und Konfessionen erstarrt ist und nicht in
Erfahrungen und Empfindungen lebt, mit einer Ethik, die moralische Grundsätze aus
unzusammenhängenden Bibeltexten ableitet. Und so könnte man fortfahren.
Fundamentalismus
Nun müssen wir bestimmt nicht alle klassischen Evangelikalen in eine Reihe stellen.
Es gibt unter ihnen sehr verständige Menschen, die zu Recht das Gewissen bilden für
alle Neo-Evangelikalen, die nach der anderen Seite zu weit zu gehen drohen. Aber es
gibt einen rechten Flügel unter den klassischen Evangelikalen, über den wir nach
meiner Einsicht sehr bekümmert sein müssen. Wir könnten sie als ‘Fundamentalisten’
bezeichnen. Mit ‘Fundamentalismus’ meinen wir, nach inzwischen üblichem
Sprachgebrauch, einen bigotten und beschränkten Konservativismus. Auf der Trennlinie
zwischen klassischen und Neo-Evangelikalen wird sich noch einiger Kampf abspielen
müssen. Aber von zwei Richtungen können wir uns zumindest schon distanzieren, und
das sind die Modernisten und die Fundamentalisten.
Auf der einen Seite ist da die notwendige Abgrenzung zum Liberalismus. ‘Dein ganzes
Wort ist Wahrheit’ (Ps. 119:16) - das ist und bleibt unverkürzt unser Motto. Die
Grenze zwischen Neo-Evangelikalen und Liberalen ist dann auch ganz deutlich: Die
ersten glauben wohl, die zweiten nicht an die Gottheit, die Jungfrauengeburt, das
stellvertretende Versöhnungswerk und die leibliche Auferstehung von Christus. Wir
stoßen uns an den Theologen, die in aller Ruhe weiter zukünftige Prediger ausbilden
und inzwischen dem christlichen Glauben den Boden entziehen. Die aufgrund eines
grenzenlosen Vertrauens in die ‘moderne Wissenschaft’ uns erzählen wollen, was in
der Bibel historisch glaubwürdig ist und was nicht, was von Daniel, Jesaja, Jesus
oder Paulus selbst stammt und was später ihnen zugeschrieben wurde, was der moderne
Mensch noch von der Bibel glauben kann und was nicht, usw. Wir erstaunen uns weiterhin
über die oberflächliche Methodologie und den geringen wissenschaftlichen Gehalt von
vielem in der ‘historischen Kritik’ und Dogmatik. Aber dazu muß dann auch mit
Nachdruck gesagt werden, wie sehr die Grundlagen des Fundamentalismus (im angegebenen
Sinn des Wortes) denjenigen des Liberalismus gleichen. Gewöhnlich leiden beide
Richtungen an der gleichen Überschätzung der ‘modernen Wissenschaft’. Die eine
meint, wissenschaftlich aufzeigen zu können, daß die Bibel nicht, die andere, daß
die Bibel doch das unfehlbare Wort Gottes ist. Oder in etwas gemäßigter Form: Der
Fundamentalismus verfällt immer wieder in den Fehler, die Zuverlässigkeit der
Schrift im wissenschaftlichen Sinn verstehen zu wollen. Die Bibel ist so zuverlässig,
daß man ‘sogar’ wissenschaftlich (naturwissenschaftlich oder geschichtlich)
überhaupt nichts davon abtun kann... Die Bibel ist historisch durch und durch
zuverlässig; aber die Fundamentalisten gehen von einer veralteten ( tatsächlich
durch und durch positivistischen) Definition der historischen Zuverlässigkeit aus.
Die Bibel ist historisch durch und durch zuverlässig - aber nicht ohne weiteres im
Sinn des Fundamentalismus.
Scientismus
Wie wird ein Fundamentalist reagieren, wenn ein Neo-Evangelikaler behauptet, daß er
fest an die Unfehlbarkeit der Schrift glaubt - aber nicht an die Unfehlbarkeit der
Theologen, die meinen, die Unfehlbarkeit der Schrift wissenschaftlich haarklein
darlegen zu können? Wie es Dr. John Vanderstelt in einer These seiner Dissertation
ausdrückte: ‘Die Lehre von der Unfehlbarkeit der Schrift ist nicht unfehlbar.’
Oft kommt dann die Reaktion, daß der Betroffene die Unfehlbarkeit der Schrift
antastet. Auch wenn dieser noch so deutlich auszulegen versucht, was er meint, es
hilft nichts. Das ist typisch scientitisch: Wer die gängige Theologie der
Unfehlbarkeit antastet, tastet offenbar die Unfehlbarkeit der Schrift an.
Oder nimm das Beispiel von jemandem, der behauptet, daß er fest an die Dreieinheit
Gottes glaubt, aber daß er nicht überzeugt ist, daß die Theologen (oder die Kirche)
die Dreieinheit in jeder Hinsicht korrekt formuliert haben. Denke allein an die
anfechtbare Terminologie (Begriffsbildung): eine Substanz oder Essenz, drei Personen
oder Hypostasen oder Subsistenzen. In einem solchen Fall kommen todsicher Menschen,
die behaupten, daß der Betreffende die Dreieinheit Gottes leugnet. Wer die gängige
Theologie der Dreieinheit antastet, tastet nach ihrer Meinung die Dreieinheit selbst
an. Es geht diesen Menschen, ‘sogar’ vielen Theologen, nicht ein, daß das Wort
Gottes absolut, aber alle Theologie relativ ist: gebrechliches und vor allem
historisch bestimmtes Menschenwerk. Warum ist es so schwierig einzusehen, daß
derjenige, der gebrechliche menschliche Theorien über die Dreieinheit Gottes antastet,
damit wirklich noch nicht Gott selbst angreift?
Diese Überschätzung der theologischen Wissenschaft - nicht als Glaubenszeugnis,
sondern als Wissenschaft - ist leider weiterhin kennzeichnend für einen großen Teil
der ‘konservativen’ Theologie (übrigens in Amerika noch viel schlimmer als hier).
Eine Hauptursache ist, daß man den Unterschied zwischen der Glaubenserkenntnis des
Herzens und ihrer wissenschaftlichen Verantwortung mit dem logischen Verstand nicht
akzeptieren will. Vielfach setzt man die Theologie einfach mit der Glaubenserkenntnis
gleich: wer also die Theologie antastet, tastet den Glauben an. Auf diese Weise sind
schon viele Studierzimmer-Theorien von Theologen dem einfachen Kirchenvolk als letzte
Wahrheiten Gottes aufgedrängt und zum Ausgangspunkt von Kirchenspaltungen gemacht
worden. In dieser Hinsicht scheint ein großer Teil der ‘konservativen’ Theologie
(von welcher Richtung auch) noch bitter wenig gelernt zu haben.
Das gleiche gilt allerdings auch für andere wissenschaftliche Fächer. Wer
Fragezeichen setzt hinter die biologische Theorie der sogenannten (einzeln
geschaffenen) Hauptlebenstypen (von manchen Kreationisten Baramins genannt), sät
damit noch keinen Zweifel gegenüber der Tatsache, daß alle Pflanzen und Tiere ‘nach
ihrer Art’ geschaffen wurden (was das übrigens auch bedeuten mag). Wer Fragezeichen
setzt hinter die geologische Sündfluttheorie über das Entstehen von Erdschichten und
Fossilien, sät damit noch nicht notwendigerweise Zweifel an der historischen Tatsache
der Sündflut als solcher. Wer Fragezeichen setzt hinter eine Anthropologie oder
Psychologie, die von dem Seele/Leib-Dualismus (in aristotelischem, thomistischem oder
cartesianischem Sinn) ausgeht, tastet damit noch nicht wirklich das biblische Zeugnis
über Seele, Geist und Leib an; nur konservative Theologen denken das.
Glaubens-Annahmen
Nun finde ich, daß wir in unserer Abgrenzung einerseits zum Modernismus und
andererseits zum Fundamentalismus die Grenzen deutlich setzen müssen. Ohne mit den
Glaubens-Annahmen des Modernismus eins zu sein, müssen wir dieser Strömung zumindest
Anerkennung dafür zollen, daß sie unsere Aufmerksamkeit gerichtet hat auf z.B. die
gewaltige Bedeutung der literarischen Formen im Alten Testament (siehe dazu z.B. den
Artikel von Dr. Paas in dieser Nummer). Und umgekehrt: Ohne mit dem Scientismus und
Biblizismus des Fundamentalismus eins zu sein, teilen wir doch bestimmte
Glaubens-Annahmen des Fundamentalismus.
Laßt mich ein Beispiel anführen aus den prophetischen Büchern, und zwar die Frage
des sog. Deutero-Jesaja. Es geht hier um die These, daß Jesaja 40-66 (oder -57) von
einem späteren, anonymen Propheten geschrieben worden sein soll, den man als
Deutero-Jesaja, ‘zweiten Jesaja’, bezeichnet. Wie muß man diese Behauptung
betrachten? Das hängt nicht allein von strikt literarischen und historischen
Argumenten ab, sondern auch von den Glaubens-Annahmen, von denen man ausgeht.
Literarisch: Warum sollen auch von einem bibeltreuen Standpunkt aus keine Fragen
gestellt werden dürfen über die großen Unterschiede zwischen Jes. 1-39 und Jes.
40-66? Gibt es da keine großen literarischen Unterschiede, ja, scheint nicht sogar
die Rede zu sein von einem gewissen ‘Stilbruch’? Historisch: Spricht nicht jeder
Prophet, wenn er das auch mit noch so vielen Voraussagen tut, immer die Menschen
seiner eigenen Zeit an? Ist es dann nicht befremdend und außergewöhnlich, daß
Jesaja in Kap. 40 und danach scheinbar eine Generation anspricht (nämlich die
Generation gegen Ende der Babylonischen Gefangenschaft), die erst einige Jahrhunderte
nach ihm bestehen würde. Beachte: Er sagt diese Generation nicht voraus (darin würde
kein Problem liegen), sondern er spricht sie an, als ob er in ihrer Zeit lebte.
Beachte: Ich sage nicht, daß auf diese Fragen keine genialen Antworten gegeben wurden,
und ich behaupte auch bestimmt nicht, daß das Buch Jesaja nicht doch eine Einheit
sein könnte. Bei Gott sind alle Dinge möglich. Aber ist allein schon das Stellen
dieser unvermeidlichen exegetischen Fragen als solches schon nicht mehr ‘bibeltreu’!?
Das man das oft behauptet, ist sehr begreiflich. Denn von Anfang an war die ganze
Diskussion um den sog. Deutero-Jesaja vor allem vom Anti-Supranaturalismus beherrscht,
das ist der Widerstand gegen den Glauben an das ‘Übernatürliche’, in diesem Fall:
an die göttliche Vorhersage. Die Idee, daß man ein prophetisches Bibelbuch nicht
für fähig hielt, mehr als ein Jahrhundert zuvor den Namen des persischen Königs
vorauszusagen (Jes. 44:28; 45:1), ist eine typische Form eins solchen
Anti-Supranaturalismus. Ein derartiger Unglaube ist für uns bestimmt nicht annehmbar.
Die Tatsache, daß z.B. 1.Kö. 13:2 lange vorher den Namen des Königs Josia
voraussagt, ist als solche kein Beweis dafür, daß diese Geschichte nur eine Legende
ist, bzw. daß dieses Kapitel nach dem König Josia geschrieben wurde. Wir glauben,
daß Gott derjenige ist, ‘der von Anfang an den Ausgang verkündet und von alters
her, was noch nicht geschehen ist’ (Jes. 46:10), und daß er daher auch die Namen
von Josia und Kores vorher kennt. Aber abgesehen von diesem Anti-Supranaturalismus
gibt es doch auch in einem ‘bibeltreuen’ Denkrahmen gute Gründe, um die genannten
literarischen und historischen Fragen zu stellen. Und dabei sind die konservativen
Antworten nicht ohne weiteres von vornherein besser als die Annahme eines späteren
Propheten (‘Deutero-Jesaja’).
Ich habe inzwischen eine Menge Arbeiten von Alttestamentlern und Hermeneuten zu
Gesicht bekommen, die aus konservativem Haus stammen, aber die nicht (mehr) von einem
simplistischen (eigentlich modernistischen!) Schema ‘bibeltreu gegen bibelkritisch’
ausgehen, im Gegenteil, die die akademische Debatte nicht scheuen und andere
beurteilen auf der Basis von ausgearbeiteten Argumenten, und nicht auf Grund von
Stereotypen und Vorurteilen. Wie heillos ist der ‘Insel’-Standpunkt von vielen
Theologen und verwandten Wissenschaftlern, die nur untereinander diskutieren und gegen
‘die anderen’ schreiben. Davon wird niemand weiser; damit kitzeln wir nur uns
selbst, und wir stellen uns damit in gewissem Sinn außerhalb unserer Zeit.
(Übersetzung: Frank Schönbach, 12/01)
Nederlands Dagblad - 12. Oktober 2001
www.nd.nl
Ouweneel verwirft
Inspirationstheorien
Von unserer Redaktion Kirche
AMERSFOORT - Jede theologische Lehre bezüglich der Unfehlbarkeit der Schrift ist
fehlbares Menschenwerk, findet Prof.Dr. W.J. Ouweneel. Die göttliche Inspiration
nennt er im tiefsten ein Geheimnis. Und ein Geheimnis kann man nicht einfangen in der
einen oder anderen Theorie.
Die jüngste Nummer von Bijbel en Wetenschap, eine Veröffentlichung der Evangelischen
Hochschule in Amersfoort, ist dem Thema gewidmet: ‘Wie lesen wir die Schrift?’.
Ouweneel kennt zwar acht verschiedene Inspirationstheorien, aber er hält nicht viel
davon: „Wir sehen oft im Nachhinein, wir historisch bestimmt solche Sichtweisen aus
der Vergangenheit in Wirklichkeit waren - und spätere Generationen werden über
unsere Sicht der Schrift das gleiche sagen.“
Ouweneel grenzt sich einerseits vom Liberalismus ab. „’Dein ganzes Wort ist
Wahrheit’ (Ps. 119:16) - das ist und bleibt unverkürzt unser Motto.“ Andererseits
stellt er die Frage, ob die Annahme eines buchstäblichen, historischen Adam „wirklich
genau so wichtig wie der Glaube an den buchstäblichen, historischen Christus.“ Muß
in der Bibel geschichtlich und naturwissenschaftlich alles stimmen, oder geht es „vielmehr
um eine existentielle Sache? Oder sind dies falsche Gegensätze?“
Überschätzung
Indem er die moderne ‘historische Schriftkritik’ und den ‘Fundamentalismus’
miteinander vergleicht, behauptet er, daß beide Richtungen leiden „an der gleichen
Überschätzung der ‘modernen Wissenschaft’. Die eine meint, wissenschaftlich
aufzeigen zu können, daß die Bibel nicht, die andere, daß die Bibel doch das
unfehlbare Wort Gottes ist.“ Überschätzung der Wissenschaft nennt er die
Behauptung: Wer die gängige Theologie der Unfehlbarkeit antastet, tastet die
Unfehlbarkeit der Schrift an.
Das gleiche stellt er bei der Dreieinheit fest. „Warum ist es so schwierig
einzusehen, daß derjenige, der gebrechliche menschliche Theorien über die
Dreieinheit Gottes antastet, damit wirklich noch nicht Gott selbst angreift?“ Die
‘konservative’ Theologie möchte nach seiner Meinung den Unterschied zwischen
Glaubenserkenntnis des Herzens und deren wissenschaftlicher Verantwortung mit dem
logischen Verstand nicht akzeptieren. „Vielfach setzt man die Theologie einfach mit
der Glaubenserkenntnis gleich: wer also die Theologie antastet, tastet den Glauben an.“
Auf diese Weise, findet Ouweneel, wurden eine Reihe von Studierzimmer-Theorien dem
Kirchenvolk aufgedrängt „als letzte Wahrheiten Gottes“ und zum Ausgangspunkt von
Kirchenspaltungen gemacht. Und daraus wurden immer noch keine Lektionen gezogen.
Obwohl er mit den Glaubens-Annahmen des Modernismus (‘die Bibel ist nicht wahr’)
nicht eins ist, findet er, daß diese Strömung in bestimmten Punkten Anerkennung
verdient. Als Beispiel nennt er, daß die Aufmerksamkeit gerichtet wurde auf „die
gewaltige Bedeutung der literarischen Formen im Alten Testament“.
Weiterhin stempelt Ouweneel das Schema ‘bibeltreu’ gegen ‘bibelkritisch’ als
simplistisch ab.
Buchstäblich wahr?
Auch Herr H.P. Medema fragt sich in dem Blatt, ob der Fundamentalismus sich selbst
nicht überschätzt: „Der Fundamentalismus wollte die Frage beantworten, die von der
modernistischen Theologie auf die Tagesordnung gesetzt worden war: Ist es
buchstäblich wahr? - und die Antwort war deutlich : Ja. Während die modernistische
Theologie deutlich nein sagte. Aber wer hat die Frage ausgedacht. Die steht nicht in
der Bibel, und es wird in diesem Buch auch nicht dazu aufgerufen.“
Ebenso abzulehnen findet er die Frage: Ist es historisch wahr? „Als könnten wir die
Vergangenheit zurückrufen und auf ein tatsächliches Geschehen-Sein kontrollieren.
Ein völlig verkehrter Ausgangspunkt der modernen Zeit, mit dem wir als Christen uns
überhaupt nicht so naiv hätten einlassen sollen.“
Der Fundamentalismus rief auch „ängstlich“: Es gibt keine Fehler in der Bibel,
und das können wir beweisen. Aber dieser Ausgangspunkt war verkehrt, so Medema: „Die
Autorität und die Kraft der Bibel liegt nicht in der beweisbaren Fehlerlosigkeit des
Textes diese Buches, sondern in der spürbaren Wirklichkeit des Geschehens in selbigem
Buch.“
© Nederlands Dagblad
Übersetzung: Frank Schönbach, 12/01
Das ND gab dem Vorstand und dem
Direktorium der Evangelischen Hochschule Raum, um auf den oben stehenden Artikel zu
reagieren.
ND 18. Oktober 2001
Inspirationstheorien
In der Zeitung vom 12. Oktober stand ein Bericht unter dem Titel: ‘Ouweneel weist
Theorien über Inspiration ab’ (S.2). Anlaß dazu war die Themennummer von Bijbel en
Wetenschap über die Frage: ‘Wie lesen wir die Schrift?’, die in dieser Woche
erschienen ist. In dem Bericht wurden einige Brocken aus der B&W-Suppe gefischt,
und damit ist natürlich immer das Risiko verbunden, daß der Journalist dabei ein
ziemlich verkürztes Bild zeichnet.
So gibt der Bericht zwar einigermaßen gut wieder, was Ouweneel in der Themennummer
über Inspiration gesagt hat, aber die Titelzeile ist verkehrt. Erstens: Ouweneel
weist Inspirationstheorien nicht ab. Er findet manche dieser Theorien (mit allen ihren
Beschränkungen) tatsächlich sehr brauchbare (wenn auch gebrechliche) Annäherungen
an das göttliche Geheimnis der Inspiration. Zweitens: Die verständigen und
wohlwollenden Leser des Nederlands Dagblad begreifen, daß Ouweneel mit seiner Kritik
an den Inspirationstheorien noch nicht die Inspiration als solche abwies. Im
Gegenteil, genau wie jeder andere an der Evangelischen Hochschule hält er fest an der
vollständigen göttlichen Inspiration und damit an der göttlichen Autorität und der
Zuverlässigkeit der Schrift. Darüber kann kein Mißverständnis bestehen.
Ebenso kann die (aus ihrem Zusammenhang isolierte) Frage, ob die Existenz von Adam
genau so wichtig ist wie die Auferstehung von Christus, verkehrt aufgefaßt werden.
Die Frage bedeutet nicht, daß Ouweneel die Existenz Adams leugnen würde, im
Gegenteil. Das Problem liegt nicht in dem Bericht als solchem, sondern in dem, was
oberflächliche Leser (zu Unrecht) daraus schließen könnten. Wer sich die Mühe
macht, die Themennummer von Bijbel en Wetenschap zu lesen, wird viel besser beurteilen
können, was Ouweneel (und andere Autoren) genau gesagt haben.
Ebenso wollte sich H.P. Medema gerade überhaupt nicht konform stellen mit den
kritischen Fragen der modernen Theologie, die wie die Worte der Schlange in Genesis
3:1 klingen (nach der holl. Staten-Übersetzung): „Ist es denn so, daß Gott gesagt
hat?“ Im Gegenteil. Die Frage nach der Wirklichkeit dessen, wie es geschah (so legte
Medema in seinem Artikel dar) wird durch die gesamte Bibel hindurch nicht gestellt,
sogar nicht dazu aufgerufen. Dieses Buch fordert von uns, daß wir die Wirklichkeit
dessen, was geschehen ist, geschieht und geschehen wird, integral [als ganzes, AdÜ]
zu uns kommen lassen. Es ist eine typische Selbstüberschätzung der Modernität, daß
sie imstande ist, die Schrift in kleine Stücke und Teile zu zerschneiden, und im
Anschluß festzustellen, was oder was nicht wirklich geschehen ist. Aber es ist
schlimmer als das: Es ist die Weigerung, das Wort Gottes unbefangen zu sich kommen zu
lassen, als genau die gleiche Wirklichkeit, von der wir auch ein Teil ausmachen, die
Wirklichkeit Gottes. So hochmütig lesen wir nicht einmal ein menschliches Buch, und
im betreffenden Artikel wird mit Illustrationen aus der Literaturwissenschaft
aufgezeigt, daß kein einziges Buch seinen Lesern zugesteht, es auf diese arrogante
Weise zu lesen, geschweige denn die Bibel.
Der Begriff ‘evangelisch’ bei der Evangelischen Hochschule steht für bibeltreu.
Ungefähr 75% der EH-Studenten kommen aus dem breiten Spektrum der reformatorischen
Konfession. Ungefähr 20% kommt aus der evangelischen Ecke mit allen ihren
Schattierungen. Auch das EH-Dozentenkorps, Vorstand und Aufsichtsrat widerspiegeln
dieses Verhältnis von reformatorisch zu evangelisch. In der EH arbeiten
Reformatorische und Evangelische sehr gut zusammen. Wir richten uns auf das, was uns
vereint, und denjenigen, der uns vereint: unseren Erlöser, den Herrn Jesus Christus,
als den einzigen Weg zur Seligkeit. Unser Zugehen auf die Studenten ist bibeltreu: Die
Bibel ist unsere Grundlage als das unfehlbare, inspirierte Wort Gottes. Die Bibel
spricht mit absoluter Autorität, sowohl dort, wo es sich um das Heil handelt, als
auch dort, wo sie über die Geschichte, den Kosmos und die Natur spricht. Das haben
wir vor 25 Jahren bekannt, und das bekennen wir auch anno 2001.
Der Vorstand der EH
Das Direktorium der EH
Prof.Dr. W.J. Ouweneel
Übersetzung: Frank Schönbach, 12/01
Bijbel en
Wetenschap November 2001
Zeitschrift der Evangelischen Hochschule
www.eh.nl
[Dieser redaktionelle Artikel ist auf
der holländischen Website nur teilweise abgebildet]
Die Debatte .... [Rest des Titels fehlt] ( Original )
Willem J. Ouweneel
Dies ist die zweite Themennummer über die Frage ‘Wie lesen wir die Schrift?’,
oder die Autorität der Schrift, die historische Zuverlässigkeit der Bibel, die neuen
literarischen Sichtweisen, die jüngste hermeneutische Diskussion, und alles, was
weiter damit zusammenhängt. Beachte: B&W als solche hat keine Meinung; das Blatt
ist nur ein offenes Forum für die verschiedenen Auffassungen.
Die erste Themennummer hat einiges ausgelöst, vor allem durch einen Artikel im
Nederlands Dagblad, der die sensationellen Brocken aus der Suppe gefischt und dadurch
ziemlich viele Leser auf eine falsche Spur gesetzt hat. Der Artikel hatte die
Überschrift: ‘Ouweneel weist Theorien über die Inspiration ab.’ Das ist ziemlich
krass ausgedrückt; ich halte manche dieser Theorien mit allen ihren Begrenztheiten
nämlich tatsächlich für sehr brauchbare - wenn auch gebrechliche - Annäherungen an
das göttliche Geheimnis der Inspiration. Aber auf jeden Fall begriffen die
verständigen Leser des ND, daß Ouweneel damit noch nicht die Inspiration als solche
abwies. Genau so wenig, wie die Frage, ob die Existenz von Adam ebenso wichtig ist wie
die Auferstehung von Christus, nicht bedeutet, daß Ouweneel die Existenz von Adam
leugnet. Wer sich die Mühe machte, die Themennummer von B&W zu lesen, konnte das
alles deutlich sehen. Diejenigen, die nur oberflächlich lesen, sahen es nicht und
reagierten manchmal ziemlich hitzig.
Dennoch machen wir mutig weiter mit dieser zweiten Themennummer über die Frage ‘Wie
lesen wir die Schrift?’. Einen wichtigen Teil dieser heutigen Nummer stellt der
zweite und letzte Artikel von Dr. Hendrik Koorevaar bzw. Dr. Stefan Paas über die
historische Zuverlässigkeit von 1.Mo. 1-3 dar. Keiner der Artikel in dieser Nummer
darf als ein direkter Kommentar auf andere Artikel in dieser und der vorigen
Themennummer betrachtet werden, auch wenn es hier und dort so scheint; alle Artikel
waren bereits geschrieben, bevor die Autoren vom Inhalt der anderen Artikel Kenntnis
nehmen konnten.
.....
(Übersetzung: Frank Schönbach, 12/01)
Folge: 6 December 2001
- Artikel Reformatorisch Dagblag
Zurück
zum Holländische Seite |